Ein historischer Terroranschlag im Grossmünster

Ausschnitt aus  «Hundert Schweitzer Prospecte» (1770) von Johann Balthasar Bullinger
Grossmünster 1770 (J.B. Bullinger)

Am 12. September 1776 versammeln sich rund 1200 Gläubige im Zürcher Grossmünster. Es ist Buss- und Bettag, eine der vier Gelegenheiten, an denen die Reformierten das Abendmahl halten. Nur schmeckt der Abendmahlswein so scheusslich, dass kaum jemand davon trinkt. Glücklicherweise, denn er ist vergiftet. Über die verwendeten Substanzen sind sich die Experten nicht einig – die Chemie als exakte Wissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen –, auch ist niemand nachweislich daran gestorben. Die Wogen der Empörung schlagen trotzdem hoch über diesen vereitelten Terroranschlag avant la lettre. Die Regierung wertet den Vergiftungsversuch als Angriff auf Kirche und Staat, die im Alten Zürich noch eng verbunden sind. Sie ordnet umfassende Ermittlungen an und befiehlt der einheimischen Presse absolutes Stillschweigen.

Doch die Schreckensgeschichte der Abendmahlsweinvergiftung erobert in immer abenteuerlicheren Abwandlungen das deutschsprachige Ausland. Das idealisierte Bild der idyllischen Eidgenossenschaft gerät ins Wanken, die Zürcher Regierung immer mehr unter Druck. Unter den knapp 10'000 Einwohnern der Stadt schiessen die Gerüchte ins Kraut, man spricht von hunderten Toten. Am Sonntag, den 29. September lässt die Regierung in allen Kirchen der Stadt ein hochobrigkeitliches Manifest verlesen, das die Fakten klarstellt und zweihundert Taler Belohnung aussetzt für Hinweise, die zur Festnahme des Schuldigen führen würden. Danach halten sämtliche Zürcher Pfarrer eine Predigt zu diesem furchtbaren Verbrechen. Am folgenreichsten ist die von Johann Caspar Lavater.

Lavater: Pfarrer, Autor, Physiognomiker, Fahnder

J.C. Lavater (F. Ölenhainz)
J.C. Lavater (F. Ölenhainz)

1776 ist der fünfunddreissigjährige Waisenhauspfarrer Johann Caspar Lavater schon längst einer der berühmtesten Männer Zürichs, wenn nicht der Schweiz. Bereits mit 21 Jahren hat er ein erstes Mal auf sich aufmerksam gemacht, als er gemeinsam mit Johann Heinrich Füssli den Landvogt von Grüningen, Felix Grebel, öffentlich des Amtsmissbrauchs bezichtigte, worauf dieser schliesslich verurteilt und des Landes verwiesen wurde. Es sind dann jedoch vor allem seine Schriften, die Lavater bis weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt machen. Sein Publikum ist so breit wie das Spektrum seines Schreibens. 1767 erscheint mit den Schweizerliedern eine Sammlung patriotischer Gedichte, ab 1768 folgt das auf vier Bände angelegte religionsphilosophische Werk Aussichten in die Ewigkeit, 1771 dann das Geheime Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst. Das grösste und nachhaltigste Echo erzielt er aber mit den vier Bänden der Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, die ab 1775 erscheinen. Sie verhelfen der Physiognomik zu internationaler Popularität, Lavater avanciert endgültig zu einer der umstrittensten Figuren seiner Zeit.

Für den engagierten Pfarrer ist die biblische Zeit der Wunder keineswegs vorbei. Im Unterschied zu den Deisten, die Gottes Einfluss auf das irdische Geschehen verneinen, glaubt Lavater fest daran, dass der Allmächtige in der Welt nach wie vor handfest wirkt. Er sucht nach konkreten Manifestationen dieser Allmacht und wird mehr als einmal Opfer selbsternannter Heiliger und Scharlatane.

Für Lavater ist die Abendmahlsweinvergiftung eines der prägendsten Ereignisse seines Lebens. In seinen Augen steht nicht weniger als die Glaubwürdigkeit Gottes auf dem Spiel – und jene seiner Funktion als Geistlicher. Denn bliebe ein derartiges Verbrechen ungesühnt, wie wäre dem Bösen in dieser Welt dann noch beizukommen? Lavater macht die Aufklärung des Verbrechens zu seiner heiligen Mission.

Das Facebook des 18. Jahrhunderts

Lavaters Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775 bis 1778) sind gleichzeitig sein berühmtestes und umstrittenstes Werk. Vier grossformatige Bände, insgesamt rund 1500 Seiten, die sich ganz der irritierend wissenschaftlich konzipierten Kunst der Gesichtsdeutung widmen. Unzählige Silhouetten und Porträts bevölkern diese epochale Publikation, die den Namen Facebook genauso verdient hätte wie Zuckerbergs Website. Für Lavater ist ein Gesicht weit mehr als eine Summe von Schnappschüssen, die eine momentane Befindlichkeit ausdrücken. Die Physiognomie eines Menschen bilde sein ganzes Wesen ab, man müsse sie nur zu entziffern wissen, verspricht er. Millionen glauben ihm. Er löst eine Begeisterungswelle für die Physiognomik aus, die weder vor Sprach- noch vor Landesgrenzen haltmacht. Es wird Mode, in Gesellschaft Silhouetten zu zeichnen und gemeinsam zu deuten. In der Einzigartigkeit des physiognomischen Ausdrucks findet das rasant wachsende Bürgertum seine eben entdeckte Individualität bestätigt.

 

Schattenriss Lavaters (W. H. Mewes)
Schattenriss Lavaters (W. H. Mewes)

Lavaters Physiognomik verbindet Wissenschaft und Mystizismus auf spektakuläre Weise. Verblüffend unbeschwert vermengt der Zürcher Pastor seinen Anspruch auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit mit überschwänglicher Gefühlsbetontheit und Schwärmerei. Er will nicht nur das sinnliche Leben der Menschen, sondern auch ihr übersinnliches Geistes- und Seelenleben auf rational kalkulierbare Gesetze zurückführen. Diese Mischung behagt nicht allen. Besonders die aufkommenden Wissenschaften akzeptieren die Physiognomik nicht. Lichtenberg etwa sieht in ihr einen groben Aberglauben, der die Maske der Vernunft trage. Je berühmter Lavater wird, desto lauter und beissender werden Kritik und Spott. Sein physiognomischer Blick, der jeden Gesichtsteil genau unter die Lupe nimmt, hat auch tatsächlich komisches Potenzial. Besonders verlacht wird seine Vision einer forensischen Physiognomik, die es erlauben soll, Verbrecher aufgrund ihrer Gesichtszüge zu überführen. Nun will Lavater den Beweis antreten und mit dieser Methode den Giftmischer stellen. Doch er ist nicht allein mit dieser Absicht.

 

Ein verliebter Waisenjunge und die Physiognomik

Seit ein paar Monaten ist der siebzehnjährige Jakob Zundel der angesehenste Junge im Waisenhaus. Denn im Unterschied zu den allermeisten seiner Kollegen muss er nur noch die Nächte in der verriegelten Anstalt verbringen, tagsüber geht er beim berühmten Lavater als Schreiber und Zeichner in die Lehre. Er ist der sprichwörtliche Musterknabe, Zucht und Ordnung sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Bis er sich unsterblich in Judith Keller, die Tochter des Sigristen des Grossmünsters, verliebt. Als sie der Vergiftung des Abendmahlweins verdächtigt und festgenommen wird, setzt er seine noch blutjunge Karriere aufs Spiel, um die Angebetete zu befreien.

Ohne das Wissen seines Meisters möchte er den Täter mit Hilfe der Physiognomik überführen. Denn laut Lavaters Theorie würde einem geschulten forensischen Physiognomiker ein Blick ins Gesicht des Täters genügen, um dessen Schuld zu erkennen. Doch Jakob hat von Physiognomik noch sehr wenig Ahnung. Dass die Fotografie erst in ein paar Jahrzehnten erfunden werden wird und es noch keine bebilderten Verbrecherkarteien oder Personenregister gab, macht seine Aufgabe nicht einfacher. So greift er zu immer drastischeren Mitteln, um dem Giftmischer auf die Spur zu kommen. Sie führt ihn nicht nur in Lebensgefahr, sondern auch in eines der Kerngebiete der damaligen Medizin: die Anatomie. Denn im ausgehenden 18. Jahrhundert wird das Innere des menschlichen Körpers zunehmend zum Schauplatz bahnbrechender wissenschaftlicher Erkenntnisse, was so gar nicht zu Lavaters Konzentration auf die äussere Erscheinung des Menschen passen will.

Eine Frau mit Durchblick lebt gefährlich

Judith Keller, 19, braucht weder die Physiognomik noch ein Skalpell, um die Menschen zu verstehen. Sie kann den Geist eines jeden Lebewesens sehen – auch wenn es längst tot ist. Und sie kann heilen, ohne ihre Patienten zu berühren. Solcherlei Praktiken haben im Zeitalter der Aufklärung offiziell keinen Platz mehr, Judith befriedigt die immer grössere Nachfrage diskret und uneigennützig während des Sonntagsgottesdiensts im Grossmünster. Doch nun drohen die Ermittlungen zur Abendmahlsweinvergiftung alles ans Licht zu bringen.

Dabei hat sie als älteste der sechs Töchter des Grossmünster-Sigristen schon genügend Sorgen. Seit dem Tod ihrer Mutter lastet der Druck, sich möglichst bald und gut zu verheiraten, schwerer denn je auf ihr. Als Stadtknecht Kägi, ein Beamter der Ratspolizei, sich um sie bemüht, scheinen sich die Wünsche ihres Vaters zu erfüllen. Denn Kägi ist zwar unansehnlich, seine Funktion in bürgerlichen Diensten verspricht jedoch ein solides und sicheres Einkommen. Zudem ist der Stadtknecht von der Unschuld der Kellers überzeugt und verspricht, alles zu ihrer Entlastung zu unternehmen. Umso ungelegener kommt dem Sigristen das hartnäckige Werben des Waisen Jakob. Auch Judith gibt sich distanziert, obwohl sie Jakobs Gefühle gerne erwidern würde. Doch die Pflicht ihrer Familie gegenüber hat Vorrang.

Der verdächtigste Mann der Stadt

J. H. Waser (J. R. Holzhalb)
J. H. Waser (J. R. Holzhalb)

Johann Heinrich Waser, 34, Studien- und Berufskollege von Lavater, hat genügend Motive, um den Abendmahlswein zu vergiften. Er hat sich bereits mehr als einmal mit der Obrigkeit angelegt und teuer dafür bezahlt. Vor zwei Jahren wurde er vom Pfarrdienst suspendiert und mit einem Berufsverbot belegt, weil er die Vorgesetzten und Vögte in seiner Gemeinde des Betrugs bezichtigte. Seither lebt der zu Jähzorn und Rechthaberei neigende Waser vom Vermögen seiner Frau und hat noch mehr Zeit, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Machtstrukturen zu hinterfragen. Als brillanter Statistiker versteht er es, den Zahlen den Mund zu öffnen, wie er es selber ausdrückt. Und diese sprechen immer deutlicher vom gefährlichen Ungleichgewicht zwischen den wenigen Mächtigen und der grossen Mehrheit, zwischen reich und arm. Mit analytischer Klarheit sieht Waser das Ende des Ancien Régime kommen, doch zu seiner wachsenden Enttäuschung will kaum jemand seine Warnungen hören. Aber wenn dieser verbitterte Pfarrer zum engsten Kreis der Attentatsverdächtigen gehört, weshalb wird er dann nicht einmal befragt?